Spektrum



















 HuhnBeispiel by Bruno Liberda

Alles, was wir hören, setzt sich aus vielen, zugleich klingenden Teiltönen zusammen. 
Diese ergeben in ihrer Summe die Klangfarbe, die Klangcharakteristik eines Schallereignisses, sodass wir ein Huhn von einem Klavierton, eine gezupfte Harfensaite von Autohupen, Kinderlachen, Donnergrollen etc... unterscheiden können. Nur der Grundton - im obigen Bild wäre das die kaum wahrnehmbare unterste Linie - ist für das Erkennen der Tonhöhe zuständig oder notwendig.
Stellen wir uns z.B. ein Volkslied vor, dessen Melodie mit ein paar Noten niedergeschrieben werden kann: Je nachdem, ob eine Posaune das Lied bläst, wir es summen, eine Geige oder irgendein anderes Instrument es spielt, würde sich das Spektralbild vollkommen anders darstellen.


Noten "beschreiben" die unterste Linie im Spektrum und sagen genaueres über Tonhöhen (wenn uns die wohltemperierten 12 Halbtöne genügen) und Rhythmus aus, aber wenig über Artikulation, Dynamik und gar nichts über die Klangfarbe.


Bei "Fuchs du hast die Gans gestohlen" beschränken wir uns auf die siebenstufige Tonleiter des über einige Jahrhunderte herausgebildeten Dur-Mollsystems. 

Wenn wir mit den technischen Mitteln und Instrumenten von heute Musik-Klänge-Töne produzieren und komponieren, steht uns ein immer weiter wachsender Raum für das reizvolle Kräftespiel zwischen eigener Vorstellungskraft und den unergründlichen und oft überraschenden musikalischen Ausdrucksformen zur Verfügung.

In einem großen Zeitraffer könnten wir den Ablauf der abendländischen Musikentwicklung vom Gregorianischen Gesang (einstimmig) über die Kirchentonarten hin zu wohltemperiertem Dur und Moll, die den ausgeprägten Kontrapunkt erst ermöglicht haben (= Mehrstimmigkeit), der in Bach's Kunst der Fuge gipfelt, sehen. Letztere ohne genaue Instrumentenangabe (= ohne genaue Klangfarbenvorstellungen): Wichtig sind Intervallverhältnisse, d.h. mathematische Proportionen der Tonhöhen zueinander. 


Die Erfindung der Oper (durch ein mißverstandenen Versuch einer Wiederbelebung griechischer Musik in der Renaissance) katapultiert die oberste Stimme als Gesangslinie ins (wörtlich verstandene) Rampenlicht und fasst alle anderen Stimmen als Begleitstimmen zusammen. Diese folgen gewissen harmonischen Gesetzen, die von den KomponistInnen der Romantik immer weiter instrumentalisiert und ausgedehnt werden, bis Wagner mit seinem Tristan-Akkord das Gebäude endgültig zur Explosion bringt. Schönberg zieht daraus die Konsequenz und glaubt, die neue Denkweise im Zwölftonsystem stabilisieren zu können: Die harmonischen Dreiklänge, die das Fortschreiten in den Tonarten definiert haben, verlieren ihre Gültigkeit, alle 12 Halbtöne der (westlichen) Oktaveinteilung werden in logischer Folge der harmonischen Entwicklungen vom Barock, Klassik und Romantik als gleichberechtigt erklärt. Zugleich erfährt das klassische Orchester eine immense Ausweitung (siehe z.B.:G. Mahler "Symphonie der Tausend" A. Schönberg "Gurrelieder") und im selben Masse, in dem die Tonhöhe - vorherrschender Parameter der letzten paar hundert Jahre - an Wichtigkeit verliert - gewinnt die Klangfarbe als maßgebliches Gestaltungsmittel dazu. 


Schon um die Jahrhunderwende und fast 20 Jahre vor Schönbergs "Zwölftondeklaration" schreibt F. Busoni in seiner Ästhetik der Tonkunst: "Das diplomatische Zwölfersystem ist ein notgedrungener Behelf, und doch wachen wir über die Wahrung seiner Unvollkommenheiten.... Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an die Pforten..."


Dieses Verschieben von Prioritäten bedeutet nicht nur neue Provokationen der Schrift. Das tonhöhen-orientierte Denken und die damit verbundenen Instrumente und Formen verlieren an Bedeutung, andere schieben sich in den Vordergrund (Stichwort: Schlagwerk) oder werden gerade erfunden (elektronische Musik); alles gerät ins Rutschen: Von der Konzeption (die abermalige Wandlung des Begriffes ‚Orchester‘) bis zur Aufführungspraxis.


Und hier schließt sich der bewusst klein gehaltene Kreis zum obersten Bild auf dieser Seite: In den letzten Jahrzehnten ermöglichen uns Computer den genauen Blick in die genetische Struktur von Klang. So stellt sich die Zwölftonmusik als (wichtiger) Zwischenschritt in ein neues, unendlich viel reicheres Universum dar, dessen Gesetzmäßigkeiten wir teils mit wissenschaftlichen Methoden, teils mit Intuition als neue Grundlage unserer Kompositionen benutzen. Ein kleines Beispiel oder vielmehr eine Metapher soll den neuen Reichtum aufzeigen: Haben wir im Falle von "Fuchs du hast die Gans gestohlen" ein relativ einfaches Notenbild benützen können, weil wir gerade mal sieben Töne einer genau festgelegten Tonleiter verwenden, zeigt der folgende Ausschnitt die "neue Tonleiter", die je nach Umständen zwischen 128 und über 1000 Töne beinhalten kann und zwischen 44100 bis zu 96000 mal und mehr pro Sekunde sich neu konfiguriert! Nämlich ein Ausschnitt der "Klang-DNA" des verwendeten Klangmaterials. Am Bild nur die ersten paar Töne in Vergrößerung, sonst wird es hier nicht mehr darstellbar. Dabei bemerkt man auch die unterschiedliche Farbgebung, die Wiederum für die dynamischen Proportionen zwischen den einzelnen (Ober)Tönen verantwortlich und immer unterschiedlich ist.


















Der Unterschied zum obersten Bild: Der Computer funktioniert digital, d.h. ja/nein und  sieht daher nur schrittweise (eben 44100 mal oder öfter) das Material. Um uns das Lesen zu erleichtern, simuliert das Programm die Spektrallinien, die aber in Wirklichkeit die hier dargestellten Punkte verbinden.

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